Versicherungsbranche drohen hohe Schadenersatz-Forderungen

Die Versicherungsbranche könnte in naher Zukunft vor dem teuersten Versicherungsschaden ihrer Geschichte stehen. Nach Ansicht von LBBW Research besteht das Risiko, dass Schadenersatz-Forderungen wegen extrem langlebiger per- und polyfluorierter Chemikalien (PFAS) zu einer finanziellen Belastung werden könnten, die sogar den weltweiten Asbest-Skandal des letzten Jahrhunderts übertrifft. Investoren sollten dieses Thema im Blick behalten.

Seit den Fünfzigerjahren sind Kunststoffe dieser Gruppe in der Industrie weit verbreitet. PFAS sind bekannt für ihre Beständigkeit gegenüber Wasser, Fett und Schmutz sowie ihre chemische und thermische Stabilität. Sie werden in einer Vielzahl von Produkten wie Kosmetika, Kochgeschirr, Papierbeschichtungen, Textilien, Auto- und Ski-Wachsen eingesetzt. Aufgrund ihrer Langlebigkeit werden PFAS von Experten als „Ewigkeitschemikalien“ bezeichnet, was zu Problemen bei ihrer Entsorgung führt. Einige PFAS stehen auch im Verdacht, schwere oder sogar tödliche Krankheiten zu verursachen. Es gibt mehr als 12.000 Varianten dieser Chemikalien, von denen einige in vielen Industriezweigen als unverzichtbar gelten.

Versicherungsanalyst Werner Schirmer vermutet, dass besonders US-amerikanische Unternehmen von Rückforderungen betroffen sein könnten. Es ist jedoch schwierig vorherzusagen, inwieweit europäische Versicherer durch PFAS-Forderungen betroffen sein könnten. Das Risiko dürfte jedoch tendenziell mit einem hohen Anteil des US-Geschäfts und einer großen Anzahl von Schaden- und Unfallversicherungspolicen steigen.

Die genaue Höhe der volkswirtschaftlichen Schäden durch PFAS lässt sich derzeit nur schwer abschätzen, da das Thema bisher nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht wurde. Die schwedische Umweltschutzorganisation ChemSec schätzt die weltweiten Folgen aus Umwelt- und Gesundheitsschäden bis 2050 auf 141 Billionen US-Dollar. Diese Schätzung berücksichtigt jedoch nicht die Kosten für die Beseitigung von PFAS-Verschmutzung, den Verlust an Lebenserwartung oder die Auswirkungen auf die Tierwelt.

Auch die Gesundheitskosten sind schwer zu bestimmen. Der Nordische Ministerrat prognostizierte für den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) Belastungen von 52 bis 84 Milliarden Euro. Die Sozialversicherungssysteme werden den größten Teil dieser Kosten tragen, aber auch die private Versicherungswirtschaft wird betroffen sein.

Für Industrie- und Rückversicherer mit US-Geschäft könnten die Kosten noch höher sein, sagt Schirmer voraus. Besonders betroffen wären Haftpflichtversicherungen für Unternehmen sowie Arbeitsunfall-, Produktrückruf- und Management-Haftpflichtversicherungen. Einige US-Versicherer haben bereits Ausschlussklauseln für Umweltschäden in ihren Haftpflichtversicherungen eingeführt, was die Prognosen erschwert.

Gegenwärtig befindet sich die Versicherungsbranche noch in einem frühen Stadium der gerichtlichen Auseinandersetzung. In den letzten Jahren haben jedoch die Fälle zugenommen, in denen Versicherer wegen der Deckung von PFAS-Schäden verklagt wurden. Ein spektakuläres Beispiel ist die Verurteilung von 3M in den USA Mitte 2023 zur Zahlung von über 10 Milliarden Dollar für die Wasserverunreinigung durch PFAS-belastete Feuerlöschschäume.

„Obwohl die Prognosen mit großer Unsicherheit behaftet sind, ist das Risiko, dass PFAS höhere Versicherungsschäden verursacht als Asbest, nicht zu unterschätzen“, urteilt Schirmer. Er geht davon aus, dass auch kontinentaleuropäische Versicherer in ihren Haftpflichtverträgen PFAS möglicherweise ausschließen werden, ähnlich wie in den USA.

In Europa wurden bislang nur wenige Klagen wegen PFAS-Schäden eingereicht, und nur ein größerer Fall endete mit Schadenersatzzahlungen. 2022 einigte sich der US-Konzern 3M auf einen Vergleich in Höhe von 571 Millionen Euro wegen der Kontamination durch eines seiner Werke in Belgien. Diese Klagen könnten für Versicherer eine Herausforderung darstellen, da ein Ausschluss von PFAS in privaten Krankenversicherungspolicen praktisch unmöglich und in Haftpflichtverträgen schwer umzusetzen ist. Eine umfassende Änderung der Vertragsgestaltung wird erst erwartet, wenn die EU-Kommission ihr angekündigtes Verbot zahlreicher Kunststoffe durchsetzt oder eine schwere Krankheit eindeutig auf den Kontakt mit dieser Stoffgruppe zurückgeführt werden kann.

Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung von Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) / Veröffentlicht am 26.03.2024